4.2 Die Nachsilben -heit, -keit, -schaft und -tum

Im Hochdeutschen gibt es zahlreiche abstrakte Hauptwörter, die durch Nachsilben oder Vorsilben aus den Stammformen gebildet werden. Diese Silben lassen sich vielfach auch für niederdeutsche Wortstämme verwenden, so dass hier die Übernahme hochdeutscher Formen ins Plattdeutsche besonders leicht ist. Allerdings werden bestimmte hochdeutsche Ableitungssilben verwendet als seien es plattdeutsche Silben. Sie sind es aber nicht und stehen im Widerspruch zu der natürlichen Kürze plattdeutscher Wörter, hervorgerufen durch das Bestreben, alle überflüssigen Endungen abzuschleifen oder abzuwerfen.

Von den Nachsilben -ung, -nis und -chen und der Vorsilbe ge- war bereits die Rede.

Aber auch die einen Zustand, eine Beschaffenheit bezeichnenden hochdeutschen Hauptwörter auf -heit und -keit werden gerne übernommen, oder es werden mit ihnen ähnliche plattdeutsche Formen neu gebildet. Da findet man:

de jugendliche Apenheit
Barmhartigkeit*
Bliedheit (blied = fröhlich)
Dullheit* (richtig: Brass, Raasch)
Düüsterheit (richtig: Düüstern, Düüsternis)
Fienigkeit (fien = dünn, zart, feinfühlig)
Fraamheit (fraam = fromm)
Fledigkeit (fledig = fließend, weich, schmächtig, zerbrechlich
Goothartigkeit
Helligkeit
Hartigkeit
Hartenshartigkeit
Heemlichkeit (richtig: Muschelee, Kunkelee)
Jugendseligkeit
Liesigkeit
Mallerigkeit
Markwürdigkeit
Neerigkeit (nerig = geizig, sparsam)
Niigkeit (nii = neu; richtig: Nies, Nieges)
Örndlichkeit
Parforßigkeit
Poverkeit (pover = ärmlich, karg)
Slökischheit (slöksch = gierig, gefräßig)
Snipschigkeit
Sinnigkeit
en liese Stillheit (richtig: Still)
Spietschheit (spietsch = spöttisch)
Tovörkamenheit
Trutzigkeit (richtig: Trutz)
Truhartigkeit (treuherzig = tutig, truschüllig)
Verdreetlichkeit (verdreetlich = verdrießlich)
Voernehmigkeit
Vollheit
Vülligkeit
Vernünftigkeit
Wietlöftigkeit
Wedderböstigkeit

Die mit einem * markierten Wörter haben sogar schon Eingang in das aktuelle Wörterbuch “der neue Sass” der Fehrs-Gilde gefunden. Es ist zu loben, dass die Fehrs-Gilde bestrebt ist, aktuelle Begriffe aufzunehmen und sogar neue plattdeutsche Wörter vorschlägt. Damit wird es aber leider manchmal noch schwieriger, solche Germanismen auf dem Plattdeutschen herauszuhalten.

Aus dem Hochdeutschen übernommen ist gleichfalls die Nachsilbe -schaft, die eine Beschaffenheit, Gestalt anzeigt:

Bekanntschaft
Endschaft
Gemeenschaft
Leefschaft
Musterwirtschaft
Liefegenschaft
Speelkameradschaft
Reekenschaft

Neben der hochdeutschen Form findet sich nicht selten noch die alte niederdeutsche Form schop, schup, scop“, auch in missglückten Neubildungen:

Arfschop
Boorschop
Buknechenschop
Bekanntschop
Börgerschop
Endschop
Fründschop
Gesellschop
Jumferschop
Kundschop
Landschop
Leefschop
Mannschop
Naverschop
Reeschop und Reitschop
Reekenschop
Ruuchklaasschop
Sellschop
Vadderschop
Verwandschop
Weertschop
Weetenschop
Wanderschop und Wannerschop

Weit seltener wird -tum, das Verhältnis, Stand, Würde bezeichnet, verwendet:

Egendom
Heiligdom
Öllerdom
Riekdom

Das Argument, dass diese Bildungssilben im mittelniederdeutschen Schrifttum vorhanden waren und darum heute verwendet werden dürfen, ist nicht schlüssig. Das Plattdeutsche von heute ist eine natürliche Weiterentwicklung des Mittelniederdeutschen. Es hat über die Jahrhunderte bis auf geringe Reste die Endungen der Wörter verloren. Maßgeblich ist heute der Grundsatz, dass das Plattdeutsch die abstrakten Ausdrucksformen meidet und stattdessen mit konkreten, anschaulichen Begriffen umschreibt. Dieser Grundsatz sollte beherzigt werden, bevor einzelne erstarrte, alte Formen und erst recht bevor hochdeutsche Formen verwendet werden.

Es ist nicht möglich oder sinnvoll, für alle Wörter in den Listen oben die einzig richtigen plattdeutschen Ausdrücke zu nennen. Es kommt auf den Satzzusammenhang und den Kontext an, welche plattdeutsche Wendung oder welches Wort benutzt werden kann.

Ein paar Beispiele

Niigkeit

Hest du all de Niigkeit höört?

Das ist einfach. Es gibt ein Wort dafür: Nies. Damit lässt sich schön sagen:

Hest du all dat Nies höört?
Dat gifft jeden Dag wat Nies in’t Radio
All Daag wat Nies, sä de Katt, do verbrenn se sik de Tung an de hitt Melk

Arbeitslosigkeit

Die Arbeitslosigkeit in Deutschland ist gestiegen

Dieser Satz enthält das abstrakte Wort Arbeitslosigkeit. Die Übersetzung in

De Arbeidsloosigkeit in Düütschland is ansteegen

ist vollkommen untypisches Plattdeutsch. Statt den Inhalt des Satzes in abstrakter Weise, losgelöst von den Menschen, die dahinter stecken, zu übertragen, wäre diese Übersetzung vorzuziehen:

Dat gifft mehr Lüüd in Düütschland ohn Arbeid
Dat gifft wedder mehr Lüüd in Düütschland, de keen Arbeid kriegt

Nun ist der abstrakte Satz konkret und fassbar geworden, und damit viel eingängiger, verständlicher und vor allem plattdeutscher.

Fündschapp

Fründschapp is dat Beste

Es gibt im Plattdeutschen kein Wort, das Fründschapp (oder Fründschopp, Frünnschopp) heißt. Das ist aber gar kein Problem. Es wird einfach umschrieben, also mit anderen Satzkonstruktionen das Gleiche ausgedrückt:

En Fründ hebben is allerbest
*Frünn sünd dat Best”

Neerigkeit

De Neerigkeit vun de Lüüd is nich to verstahn

Dieser Satz enthält das Wort neerig (geizig) als Hauptwort. Dies ist ein typisches Beispiel, in dem ganz unnötig eine Eigenschaft zu einem Hauptwort gemacht wird, wie es im Hochdeutschen üblich ist. Besser ist es aber, die Eigenschaft als solche zu belassen und das Wort auch als Eigenschaftswort (Adjektiv) zu verwenden:

De Lüüd sünd so neerig, dat is nich to begriepen

Durch diese typisch plattdeutsche Satzkonstruktion ist es auch die möglich, übliche plattdeutsche Verstärkungsformen anzubringen:

De Lüüd sünd so neerig, dat is nich to begriepen, is dat nich
De Lüüd sünd so neerig, dat is un is nich to begriepen

Fast alle Wörter mit der Endsilbe -keit oder -heit lassen sich auf diese Weise mühelos im Plattdeutschen als das verwenden, was sie sind: Adjektve. Der Drang des schriftlichen Hochdeutschen, immer mehr Wörter einer Substativierung zu unterziehen und statt z.B. “es ist sinnlos” zu schreiben “es ist eine Sinnlosigkeit”, hat im Hochdeutschen die gesprochene Sprache schon stark geprägt. Sie ist dadurch ziemlich abstrakt und in gewisser Weise gefühllos geworden. Das sollte mit der schönen, einfühlsamen plattdeutschen Sprache nicht passieren.

(ursprünglich Abschnitt 69 in Meyers Buch “Unsere Plattdeutsche Muttersprache”)