2.17 Die Nachsilben -ung und -nis

Das Abstoßen der Endungen und das Streben nach Kürze und Vereinfachung lässt sich auch in der Wortbildung wahrnehmen.

Von der mittelniederdeutschen Nachsilbe -inge (-ung) sind außer dem e auch das i und das g verschwunden, so dass ein einfaches n übrig geblieben ist:

hochdeutsch mittelniederdeutsch plattdeutsch
Behausung husinge Hüsen
Besserung beteringe Beetern
Meinung meninge Meen’
Rechnung rekeninge Reeken
Überlegung besinninge Besinn’
Zehrung teringe Teehrn

Hier sind etliche Beispiele für diese Art Hauptwörter, die im Hochdeutschen die Endung -ung besitzen, im Plattdeutschen aber auf ein -n bzw. -en reduziert sind:

De Teehrn na de Neehrn strecken (Sch. 4, 254)1
Se günnt eenanner de Nohrn ni (Sch. 2, 79)2
inne Morgenköhln (Gr. 3, 50)3
mit Verwunnern (Gr. 3, 54)3
menni oolt Fluushooln (Gr. 3, 84)3
gude Beetern (Gr. 3, 89)3
se harrn nu en beten Unnerstütten kreegen (Gr. 3, 91)3
hartmuli Bereeken (Gr. 3, 99)3
Pleeg un Opwohrn (Gr. 3, 168)3
al froh mit de Dämmern (Gr. 3, 175)3
na ehr Beschrieven (Gr. 3, 178)3
se harr wunnerlige Inbilln daröver (Gr. 3, 179)3
Troost un Stärken (Gr. 3, 243)3
to ehr Verwunnern (Gr. 3, 245)3
de Besinn’ verleern (Gr. 3, 263)3
de Aflösen kumt (Gr. 3, 297)3
unse Regeern (Gr. 3, 322)3
Scheepsladen (Gr. 3, 333)3
frie Hüsen (F. 2, 92)4
Füürn (F. 2, 92)4
de frische Köhln (F. 2, 289)4
ik bün de Meen (F. 2, 302)4
in Verwohrn nehmen (F. 4, 54)5
de Inquarteern (F. 4, 83)5
en Reeken opmaken (F. 4, 175)5
wenig Höpen (F. 4, 222)5
keen recht Opmuntern (F. 4, 239)5
Uttehrn (F. 2, 271)4
en lütt Verköhln (F. 3, 306)6

Mitunter ist auch das -n noch weggefallen:

Dat is noch in den ooln Verfaat
ünner de Beding (W. 79)7
in Beröhr west (Gr. 3, 38)3
in Beröhr kamen (Gr. 3, 173)3
een Beding heff ik noch (F. 4,51)5
de Schreeg na de Beek to (F. 4, 204)5
nagraad keem ik in en sünnerboorn Verfaat (F. 3, 247)6

Neben der gut plattdeutschen Endung -n wird heute in der Umgangssprache und auch in geschriebenen Texten vermehrt die hochdeutsche Nachsilbe -ung gebraucht. Die Übernahme der hochdeutschen Form kann verschiedene Gründe haben:

  • die Unkenntnis gut plattdeutscher Ausdrucksweisen (geringer Wortschatz, Plattdeutsch als Fremdsprache)
  • die unreflektierte Übernahme hochdeutscher Begriffe
  • der Mangel an abstrakten Begriffen im Plattdeutschen (diese Sprache bevorzugt sinnliche, anschauliche Ausdrücke)
  • das Bedürfnis nach weitergehender Abstraktion als in der einfachen Umgangssprache

Das gleiche gilt auch für die Übernahme von Wörtern mit den Nachsilben -nis, -heit, -keit. Besser ist es jedoch, die plattdeutsche Sprache richtig zu lernen und zu sprechen, denn die Verwendung dieser (aus plattdeutscher Sicht) Fremdwörer ist nicht erforderlich. Auf keinen Fall sollten Bildungen wie die folgenden verwendet werden:

Verteilung (Kl., L 1, 20)8 > besser: Verdeeln
Trüchsettung (Kl., L 1, 122)8 > besser: Trüchsetten
he söch na Fatung (Kl., L 1, 140)8 > besser: Faaten
slechte Uterungen (Kl., L 2, 149)9 > besser: Ütern (oder auch Seggen)
in de Verfatung (Schü. 56)10 > besser: Verfaat (s.o.)
en unmögliche Tomotung (Schü. 64)10 > besser: Tomoden
en grote Verlichterung (Tr., B. L. 66)11 > besser: Verlichtern
Vernüchterung (Gr. 3, 314)3 > besser: Vernüchtern
dat weer Schickung (Gr. 3, 127)3 > besser: Schickn
twischen de Höltung (Gr. 4, 103)12 > besser: Hölt
Bookhollung (Gr. 3, 309)3 > besser: Bookholln

Mit dem Schwinden der mittelniederdeutschen Schriftsprache ist auch die Nachsilbe -nisse verloren gegangen:

staltnisse (Gestalt)
dechtnisse (Gedächtnis)

Die plattdeutsche Sprache kennt diese Nachsilbe -nis heute nicht mehr. Sie verwendet die Wörter ohne diese Nachsilbe:

de Gräff (das Begräbnis)
Verlööv (Erlaubnis)
Warms (Wärme; mittelniederdeutsch wermenisse)

Dennoch haben sich in Anlehnung an das Hochdeutsche ungewöhnliche Wortbildungen auf -nis entwickelt:

He is al in de Beeternis (Besserung, Sch. 1, 73)13
Düürnis (Teuerung, Sch. 1, 271)13
Düüsternis (Dunkelheit, Gr. 3, 219)3
Verlööfnis (Verlobung, Gr. 3, 317)3
Dröögnis (Trockenheit, Gr. 4, 113)12
mit en Gröötnis (Gruß, Gr. 4, 72)12
de Warmnis (Wärme, Kl., L. 2, 224)9

Die Endung -nis in schleswigschen Ortsnamen (z.B. Arnis, Ulsnis, Lindaunis) ist übrigens anderen Ursprungs und sollte nicht mit der oben genannten Endung verwechselt werden. Das -nis’ in diesen Ortsnamen entspricht dem mittelniederdeutschem *-nese und bedeutet Nase, bezeichnet also in der Regel einen nasenartigen Landvorsprung zum Wasser hin (vgl. auch Blankenese).

(ursprünglich Abschnitte 45 und 46 in Meyers Buch “Unsere Plattdeutsche Muttersprache”)


  1. Schütze, Holsteinisches Idiotikon, Altona 1800/06: Band 4 
  2. Schütze, Holsteinisches Idiotikon, Altona 1800/06: Band 2 
  3. Groth, Gesammelte Werke, Kiel 1893 (Unveränderte Nachdrucke 1898, 1909, 1913, 1918, 1920): Band 3 
  4. Fehrs, Gesammelte Dichtungen in vier Bänden, Hamburg 1913: Band 2 
  5. Fehrs, Gesammelte Dichtungen in vier Bänden, Hamburg 1913: Band 4 
  6. Fehrs, Gesammelte Dichtungen in vier Bänden, Hamburg 1913: Band 3 
  7. Wisser, Plattdeutsche Volksmärchen, Jena 1914 
  8. Kloth, De Landrathsdochder, Garding 1885: Band 1 
  9. Kloth, De Landrathsdochder, Garding 1885: Band 2 
  10. Anna Schütze, Mamsell, Quickborn-Bücher, Bd. 22/23 
  11. Paul Trede, Brochdörper Lüd, Garding 1890 
  12. Groth, Gesammelte Werke, Kiel 1893 (Unveränderte Nachdrucke 1898, 1909, 1913, 1918, 1920): Band 4 
  13. Schütze, Holsteinisches Idiotikon, Altona 1800/06: Band 1