2.2 Verwerfen von Lauten

Die Entwicklung hin zur Vereinfachung tritt auch in der Wegwerfung (Apothesis) von Lauten hervor. Hier können nur einzelne FĂ€lle angefĂŒhrt werden.

Das w im Inlaut verschwindet vielfach ganz:

hochdeutsch mittelniederdeutsch plattdeutsch
Frau vrouwe Fru
treu truwe tru
Klaue klouwe, klauwe, klawe Klau
Ärmel mouwe, mowe, mawe Mau
bauen buwen bu’n
miauen mauwen mau’n
hauen houwen hau’n
drohen drouwen drau’n

Das r entsteht im Niederdeutschen nur im Anlaut durch Schwingungen der Zungenspitze wie im Hochdeutschen (Zungenspitzen-r; [ÉŸ] im internationalen phonetischen Alphabet), im Auslaut der Silben und Wörter und im Innern des Wortes vor Konsonanten wird es mit so wenig Kraft gebildet, dass es ganz verhallt oder einen schwachen Vokal auszugleichen sucht. Das r wird sozusagen in den vorhergehenden Vokal verlegt:

Johr ([joa] gesprochen etwa: Jo-a)
Peerd ([pe:ɐd] gesprochen etwa: Pe-ad)
Bork ([bɔ:k] gesprochen etwa: BĂ„Ă„k)
Barg ([ba:g] gesprochen etwa: Baag)
scharp ([ʃa:p] gesprochen etwa: schaap)
Schört ([ÊƒĆ“:t] gesprochen etwa: SchƓƓt)
Korf ([kɔ:f] gesprochen etwa: KĂ„Ă„f)

Vielfach ist das r in der Aussprache gÀnzlich verschwunden, besonders vor t, s, st:

hochdeutsch mittelniederdeutsch plattdeutsch
BĂŒrste borste Böss
Christian Karsten Kassen
First verste, varste Fass
Gerste gerste, garste Gass
Kirchspiel kerkspel, karkspel Kaspel
Kirsche kersebere, karsbere Kassbeer
quer dwars dwass
Wurst worst Wuss
Wurzel wortele Wuddel, Wöddel

Mitunter bildet sich auch ein neues r aus einem d oder dd

ik harr (ich hatte)
Borm (Boden)
werrer (wieder)
Varrer (Vater)

Die weiche Aussprache des d im Plattdeutschen hat bewirkt, dass es nach langen, betonten Vokalen und vor einem tonlosen e meist ausgestoßen wird:

hochdeutsch mittelniederdeutsch plattdeutsch
Fuder voder För
guten Tag guden (goden) dach Gundag, go’n Dag
Spur, Geleise trade Tra’
wieder wedder we’r
Beiderwand beiderwant Beierwand

Vielfach fÀllt die ganze Silbe -de aus, besonders auch in Zusammensetzungen:

Peer (Pferde)
Ramaker (Rademacher)
Smee-iesen (Schmiedeeisen)
Leesetter („Gliedersetzer“, Quacksalber)

Die Silbe -de hat sich jedoch in den abstrakten Hauptwörtern erhalten, die eine Maßausdehnung bezeichnen:

in de LÀngde, Höchde, Deepde, NÀÀchde

In DoppelausdrĂŒcken erhĂ€lt sich auch mitunter das d von „und“, indem es zum zweiten Wort hinĂŒbergezogen wird:

op un dop liek dick
se snackt mi noch ĂŒm un dĂŒm
de hĂ€ngt öwer un döwer vull so ’n golln Klinglööd (W. 267)1
Rieke wöör öwer un döwer root (Kl., L. 1, 152)2

Das l fÀllt aus in Wörtern wie

as (als)
schaß (sollst)
Willem (Wilhelm)

Das g fÀllt aus in Imperfektformen wie

he sÀ
he lee

Das ch fÀllt aus vor s:

Brassen
BĂŒss
Diesel
Flass
Oss
söss
Voss
wassen
wesseln

In zusammengesetzten Wörtern oder wenn zwei Wörter so nahe aneinander gerĂŒckt werden, dass sie wie eins erscheinen, fallen von den zusammentreffenden Konsonanten alle oder wenigstens einer aus:

Hanndook
Kinndööp
Kinnjees
Spredeek
Pla’dĂŒĂŒtsch
Li’weh
Schri’book
Bofink
Ruriep
da’wi (dat wi)
wĂŒwwi (wĂŒllt wi)
wi’k (will ik)
scha’k (schall ik)
krie’k (krieg ik)
gi’mi (giff mi)

Eine KonsonantenhÀufung kommt in der plattdeutschen Sprache im Grunde nicht vor. Zum Vergleich:

Boss (Brust)
Arf (Erbse)
Aav’ (Obst)
fass (fest)
Haav (Habicht)
Heek (Hecht)
Kreev (Krebs)

Auch die durch Abwerfung von Anlauten entstehenden VerkĂŒrzungen sind hierher zu rechnen:

hendal > dal
henlank > lank
eenmal > mal
heraf > raff
heröwer > röwer
herin > rin
herop > rop
herut > rut

(ursprĂŒnglich Abschnitt 28 in Meyers Buch “Unsere Plattdeutsche Muttersprache“)


  1. Wisser, Plattdeutsche VolksmĂ€rchen, Jena 1914: S. 267 
  2. Kloth, De Landrathsdochder, Garding 1885: Band 1, S. 152