2.22 Unvollständige Sätze

Neben den lautlichen und grammatischen Erscheinungen hat das Plattdeutsche auch in der Satzfügung allerlei Kürzungen, die in der Schriftsprache in dem Maße nicht möglich sind. Satzglieder, die als selbstverständlich und
bekannt vorausgesetzt und mühelos ergänzt werden können, werden gerne weggelassen. Besonders in erregter Stimmung wird ein Gedanke oft nicht vollständig ausgeführt. Die grammatikalisch wichtigsten Satzteile werden weggelassen und es bleibt dem Hörer überlassen, diese zu ergänzen. Auch wenn die weggelassenen Satzteile grammatisch zwar die wichtigsten sind, sind sie für die Satzlogik von untergeordneter Bedeutung. Daher lenkt ihre Weglassung umso mehr die Aufmerksamkeit auf die logisch wichtigsten Satzteile. Unvollständige Sätze sind daher im Plattdeutschen häufiger und charakteristischer als in der Schriftsprache.

Mit Vorliebe wird in zusammenhängender lebhafter Erzählung die Satzaussage (Prädikat) weggelassen, besonders wenn es durch Verben der Bewegung bezeichnet werden müsste. Es soll dadurch ein schnelles Eintreten oder eine schnelle Aufeinanderfolge der Bewegungshandlungen angezeigt werden:

Do he dor hen mit sien Soldaten (P. V. 3, 33)1
De Hunn neiht ut na’n Slachterladen rin
De Buur achteran (P. V. 8, 12)2
He brickt wedder mank de Suldaten dör, un dat weg (W. 7)3
Na, de Pudel je loos un dat na‘n Sloss hen
Un do een twee dree lank de Trepp op, na’n Saal herin (W. 8)3
De Pudel wedder mit den Korf loos (W. 8)3
He na de Stuuv herin, ritt den Buum sien Flint vun’n Balken, un dormit na den Beerboom hen (W. 28)3

Auch das Hilfsverb wird in lebhafter Rede gerne ausgelassen:

He ni fuul, lang de Sweep von’n Nagel un dat achter de Kerls an!
He je gau bi un wöltert den Steen weg!

Nach „können, wollen, müssen, sollen, dürfen, mögen“ werden Verben der Bewegung, wie „reisen, gehen, fahren, kommen“, oft unterdrückt, wenn das Ziel angegeben ist:

Se will na Amerika. Wullt du mit?
Ik mutt morgen to Stadt
Wi kunnen ni dör
Ik mutt nu weg
Se schall na’n Dokter

Das Subjekt kann gleichfalls unterdrückt werden, besonders in der Form eines Pronomens:

Laat uns en beten an’n Wall Sitten gaan, will Di wat fragen (F. 4, 224)4
Üm de geihst en Schritt ut’e Döör? (F. 4, 127)4
Un wenn niep tohöörst, denn kannst hier ’n ganzen Barg to weeten kriegen (Lau, K. 87)5
Nich ruttokriegen, op keen Oort un Wies (F. 4, 86)4
Den Vagel, den mutt ik hebb’n, un wenn’t ok!

Sehr beliebt ist der elliptische Gebrauch des Zahlwortes een. Man setzt es an die Stelle eines Hauptworts, das man nicht näher bezeichnen will oder bezeichnen kann:

Na, denn schenk mi man mal een in, aver rein Gotts Woort (F. 2, 276)6
Wullt du een an Dien ruges Muul hebb’n! (F. 3, 49)7
Hest em doch een an de Ohrn geeb’n? (F. 2, 234)6
Wi wüllt man noch een nahmen
sik een köpen
he hett een siten
he hett een in de Prüük
een afpedden
een aftrecken
een achter de Kusen staken
du büst mi’n schöön’n een

(ursprünglich Abschnitt 51 in Meyers Buch “Unsere Plattdeutsche Muttersprache”)


  1. Plattdütsche Volksböker, Garding 1914 ff.: Band 3 
  2. Plattdütsche Volksböker, Garding 1914 ff.: Band 8 
  3. Wisser, Plattdeutsche Volksmärchen, Jena 1914 
  4. Fehrs, Gesammelte Dichtungen in vier Bänden, Hamburg 1913: Band 4 
  5. Fritz Lau, Katenlüd, Garding 1910 
  6. Fehrs, Gesammelte Dichtungen in vier Bänden, Hamburg 1913: Band 2 
  7. Fehrs, Gesammelte Dichtungen in vier Bänden, Hamburg 1913: Band 3