3.14 Umschreibung beim Gebrauch der Zeiten

Beim Gebrauch der Zeiten wird häufig nicht nur die einfache Form des Verbs in der jeweiligen Zeitform verwendet. Das Plattdeutsche kennt darüber hinaus eine Reihe von Umschreibungen, die den Eintritt einer Handlung oder seine Dauer ausdrücken können. Solche Umschreibungen gibt es für Gegenwart, Vergangenheit und Zukunft.

Um den Anfang einer Tätigkeit oder Handlung hervorzuheben, sind verschiedene Formen möglich. Typisch ist eine Umschreibung mit werden und dem Partizip Präsens:

Dat ward reegen
Em ward gru’n
Dor ward de Bessenbinner lachen (W. 102)1
Ik wörr dor an denken
Dor wörr dat bi em in den Knick to breeken (Schet. 52)2

In diesen Ausdrücken ist bereits die Fortdauer der Handlung angedeutet, obwohl sie noch in der Zukunft liegt. Der Übergang aus einem Zustand in einen andern tritt auch hervor, wenn werden mit einem Adjektiv zusammen das Prädikat bildet. Diese Form der Aussage gebraucht das Plattdeutsche lieber als einfache Verben:

De Appeln ward al riep (statt sie reifen)
Dat ward al düüster (statt es dunkelt)
Wi ward oolt (statt wir altern)
He ward bannig dick

Bei anfangen steht im Plattdeutschen oft statt des Infinitivs mit to (zu) der als Hauptwort gebrauchte Infinitiv mit dem unbestimmten Artikel:

De Hund fangt sik’n Klei’n an (W. 28)1 (statt: De Hund fangt an to klei’n)
Dor füng he’n Schimpen an (statt: Dor füng he an to schimpen)

Bei kommen steht im Hochdeutschen das Partizip Präteritum, wenn die Art und Weise des Kommens ausgedrückt werden soll. Das Plattdeutsche gebraucht in diesem Fall das Verb im Infinitiv und setzt häufig noch die Präposition an voran:

He keem anlopen (angelaufen)
Se keem anrieden, angahn, anspringen, ankieken, anschechtern, andrieseln
Dor keem dor’n Swarm anfleegen (W. 138)1
Ganz ut Aten un Wind keem he sik bei Jakob … anhumpeln (Lau, K. 117)3

Steht der Infinitiv ohne dieses an, wird eine Fortdauer der eintretenden Handlung ausgedrückt:

Un abens kümmt he mit de ganze Schoof Schaap lank’n Dörp drieven (W. 64)1
Dor keem mit Lachen un Singen en Schoof Minschen lang de Dörpstraat her to gahn (Schet. 35)2
Dor keem lang den Weg langsam en Wagen hertoföhrn (Schet. 64)2

Kommen in Verbindung mit bi wird einem andern Verb vorangestellt, um den Beginn der Tätigkeit kräftig zu unterstreichen:

He kümmt bi un leggt en groot Slott vor de Döör
Komm bi un snie Brot af!
Se kümmt aver bi un leggt ehr Swert twischen sik un ehr (W. 12)1
Denn kaam mal bi un gah mal na’t Armenhuus (Lau, K. 97)3

Sehr beliebt ist die Umschreibung mit gahn, um das Eintreten der Handlung deutlich hervorzuheben:

Gah sitten!
De Koh geiht ligg’n
He schull man hen ligg’n gahn
He güng in den Wagen hen sitten
O, wüllt man ers’n Ogenblick ligg’n gahn (W. 137)1
Dor geiht de Deern wedder hen sitten un weent (W. 128)1
Laat uns en beeten an’n Wall sitten gahn (F. 4, 224)4

Um das schnelle Eintreten einer Handlung anzudeuten, wird gerne die Umschreibung mit maken genommen:

Maak, dat du wegkümmst!
Maak gau to, dat ward reegen!
Wi wüllt man maken, dat wi an de Kaat kaamt
He mutt maken, dat he ut de Döör kümmt (W. 15)1

Sehr verbreitet ist die Umschreibung mit kriegen, dem der als Hauptwort gebrauchte Infinitiv mit dem bestimmten Artikel folgt:

Ik kreeg dat Lachen
He kreeg dat Nüsseln un füll hen
De Lüüd kregen dat Stillswiegen
Se kregen sik dat Vertöörn
Un so kregen se sik dat Prügeln (F. 2, 83)5

In der norddeutsch/hochdeutschen Umgangssprache haben solche Konstruktionen ebenfalls Eingang gefunden:

Ich krieg die Krise!
Da kriegst du das Kotzen

Auch in anderer Verbindung wird kriegen sehr häufig angewandt:

to weeten kriegen
to fat(en) kriegen
to sehn kriegen
to höörn kriegen
schenkt kriegen
klook kriegen
farrig kriegen (fertig bekommen)
to Schick kriegen
to Been kriegen
in’n Gang kriegen (zum Funktionieren kriegen)
bi’n Kopp kriegen
bi de Ohren kriegen (zu Fassen kriegen)
bi’n Kanthaken kriegen (zu Fassen kriegen)
bi de Slafitten kriegen (zu Fassen kriegen)
bi de Büx kriegen (zu Fassen kriegen)
ünner de Fööt kriegen
to ’n Vörschien kriegen
mit de Angst kriegen
wedder Moot kriegen

Die Fortdauer einer Handlung in der Gegenwart und in der Vergangenheit kann ebenfalls auf verschiedene Weise besonders kenntlich gemacht werden. Gewöhnlich verwendet man dazu die Verben liggen, sitten, stahn, die an und für sich schon eine Dauer bezeichnen:

de Jung liggt to slapen
Wat sittst du hier to drömen
Se sitt den ganzen Dag to neihn
Dor steiht se al wedder to saustern (flüstern)

Um eine Dauerform dieser Verben zu bilden, fügt man in der Regel noch bleiben hinzu und gibt ihnen die Vorsilbe be-:

De Preester … blifft in de Tunn besitten (W. 106)1
De Landraat … bleev nu över in de Döör bestahn (KL, L. 2, 90)6
De Düwer … bleev vermögen in sien Lock bestahn (KL, L. 2, 32)6 (Düwer = Täuber, männliche Taube)

Ohne die Vorsilbe be- wird mehr der Beginn eines andauernden Zustandes angezeigt:

Se bleev stahn
Bliev sitten!
Bliev man noch liggen

Die Dauer einer Handlung wird auch durch ein bi kenntlich gemacht, dem ein Infinitiv mit to oder als Hauptwort gebraucht oder auch ein mit un angefügter neuer Satz folgt:

He is bi to plögen
Se bleev bi to ropen
Se sünd bi’t Inföhrn
Se sünd bi un graavt den Wall op

Am einfachsten wird die Dauerform ausgedrückt, wenn man ein entsprechendes Adverb hinzufügt:

Se weern jüst bi’t Eeten
Ik weer graad bi’t Antrecken

Zur Bezeichnung der Zukunft ist im Plattdeutschen die einfache Präsensform ausreichend. Sie genügt immer dann, wenn die in der Zukunft eintretende Handlung als ganz sicher angenommen wird und ein Adverb der Zeit dabei steht, das auf die Zukunft hinweist:

Ik kaam glieks
He kümmt in veertein Daag
Morgen seh ik em

Die Zukunft kann auch durch Umschreibung mit wollen und sollen ausgedrückt werden. Das Wort wollen wird meist dann verwendet, wenn die Handlung als vom Willen der sprechenden Person abhängig hingestellt wird. Sollen wird gebraucht, wenn diese Abhängigkeit nicht betont werden kann:

Ik will di wull kriegen!
Dat wüllt wi bald mal sehn!
Laat di man Tiet, he will wull noch kamen.
Du schast di wunnern!
Ji schüllt ju verfehrn!
Wat schull do rwull na kamen
Dat schast du man sehn

Untypisch für die plattdeutsche Sprache ist es, die Zukunft wie im Hochdeutschen mit werden zu bilden. Diese Form hat mehr ein literarisches, schriftliches Dasein und findet sich nur bei Schriftstellern, die entweder nicht von Kind auf in einer niederdeutsch sprechenden Familie aufgewachsen sind oder die nur ein in Niederdeutsch übersetztes Hochdeutsch schreiben.

Eine Umschreibung mit werden, die der Bedeutung nach dem lateinischen Futurum exactum entspricht, wendet man im Plattdeutschen wie im Hochdeutschen an, um über eine in der Gegenwart oder Vergangenheit liegende Handlung eine Vermutung auszusprechen, deren Richtigkeit sich erst in der Zukunft heraussteilen wird:

Nu ward he wull al dor wesen
Dat warrst du wull vergeeten hebben
Dat ward se dor wull liggen laten hebben

Dafür kann auch die einfache Umschreibung mit Präsensformen von hebben und sien genutzt werden:

Nu is he wull al dor
Dat hest du wull vergeeten
Dat hebbt se dor wull liggen laten

Um die Möglichkeit auszudrücken, nimmt man im Plattdeutschen gern die Umschreibung mit gahn:

Dat geiht ni to maken
Wat schull dat ni gahn

Der Zweck kann durch verschiedene Umschreibungen angezeigt werden:

Wat hett dat hier rüm to liggen?
Wat wüllt ji hier to kieken?
Wat deist du hier to stahn?

(ursprünglich Abschnitt 66 in Meyers Buch “Unsere Plattdeutsche Muttersprache”)


  1. Wisser, Plattdeutsche Volksmärchen, Jena 1914 
  2. Schetelig, Lieschen Ströh un ehr Söhn, Garding 1888 
  3. Fritz Lau, Katenlüd, Garding 1910 
  4. Fehrs, Gesammelte Dichtungen in vier Bänden, Hamburg 1913: Band 4 
  5. Fehrs, Gesammelte Dichtungen in vier Bänden, Hamburg 1913: Band 2 
  6. Kloth, De Landrathsdochder, Garding 1885