5.21 Rückblick

Die plattdeutsche Sprache steht hinter dem Hochdeutschen zurück, wenn es sich darum handelt, einen Satz einem andern mit Hilfe einer Konjunktion unterzuordnen und die Sätze dadurch in ein schon äußerlich bestimmtes, logisches Verhältnis zueinander zu bringen. Sie hat dafür ihre eigene Art der Satzfügung, die, richtig gehandhabt, sich durch Leichtigkeit und Gefälligkeit auszeichnet! Sie benötigt dadurch oft nur nebengeordnete Hauptsätze. Die hochdeutsche Art der Satzfügung durch untergeordnete Nebensätze, die sich zu langen und verwickelten Satzgefügen zusammenschließen, ist nicht typisch für das Plattdeutsche. Plattdeutsch schreibende Schriftsteller, welche die Ausdrucksmittel ihrer Sprache kennen und beherrschen, haben innerhalb der stilistischen Grenzen des Plattdeutschen Spielraum genug, um ihre Schilderungen und Charakterzeichnungen bildkräftig zu gestalten. Das gilt umso mehr für die gesprochene Sprache! Unabhängig vom Satzbau und den Formen der hochdeutschen Schriftsprache bestechen im Plattdeutschen gerade die einfachen und dadurch ausdrucksstarken Stilmittel, die ihre Herkunft in der gesprochenen Sprache haben. Wer in der plattdeutschen Sprache schreibt, sollte auch plattdeutsche Stilmittel beherrschen und allseitig verwenden.

Wer behauptet, das Plattdeutsche habe nicht genug Sprachmittel, um alles erdenkliche auszudrücken, der kennt die plattdeutsche Sprache nicht. Man darf nur nicht von ihr verlangen, rein abstraktem Denken Ausdruck zu verleihen, wie es die hochdeutschen Schriftsprache tut. Das Plattdeutsche ist eine Volkssprache und verwendet deren Stilmittel. Es bietet einen großen Reichtum an Worten und Wendungen von ausdrucksstarker Frische, der viel anschaulicher und greifbarer ist als die vielfach verblassten der hochdeutschen Schriftsprache. Eine Anleihe beim Hochdeutschen ist nicht erforderlich. Nur ein Beispiel:

Boy Lornsen (Autor von “Nis Puk” und “Robbi, Tobbi und das Fliewatüüt”) hat unter anderem auch die Schöpfungsgeschichte aus der Bibel in das Plattdeutsche übersetzt. Das Buch heißt Sien Schöpfung un wat achterno keem1 und ist von 1991. Heiko Block schreibt dazu im Vorwort:

Ein Frühlingsabend im Schleswiger Dom […] [Walter] Jens gerät ins Schwärmen, als er von einem Text spricht, den er gerade gelesen hat. Verse seien das, in der die bildnerische Kraft von Sprache besonders deutlich werde — ein plattdeutscher Text, die Übersetzung der Schöpfungsgeschichte, verfasst von Boy Lornsen.

Ich werde hellhörig. Ein zeitgenössischer plattdeutscher Text, zudem gereimt, der Anfang der Bibel, “op Platt”? Zunächst überwiegt Skepsis, ich kann mir nicht vorstellen, dass dieser Stoff und diese Form für sprachschöpferische Leistung gut sein sollen. […] Schließlich liegt der Text auf meinem Schreibtisch — und ich beginne zu staunen. Schlicht, fast genial der erste Satz: “Mit rein gornix füng he an”, begeisternd die Sprachmelodie, ein Erlebnis die Treffsicherheit der Wortwahl. Keine Sprachspielereien, keine gekünstelte Suche nach neuen Worten — Lornsen bedient sich meisterhaft des plattdeutschen Wortschatzes aus Vergangenheit und Gegenwart. Er schafft, was plattdeutscher Literatur gegenwärtig nur zu häufig abgesprochen wird: Gleichzeitig komplexe Sachverhalte zu beschreiben und literarische Qualität zu erzeugen. Humor, Ironie, Spitzfindigkeit, Witz, alles unprätentiös und wortgewaltig formuliert — für mich ist dieser Text eine kleine literarische Sensation […].

(ursprünglich Abschnitt 121 in Meyers Buch “Unsere Plattdeutsche Muttersprache”)


  1. Im Quickborn-Verlag nur noch als Hörbuch zu bekommen: https://www.quickborn-verlag.de/titel.php?ISBN=mp3260