2.14 Genitiv

Auch der zweite Fall (Genitiv) ist als lebendige Form der plattdeutschen Sprache verloren gegangen. Er hat noch stärkere Einbußen erlitten als der Dativ und ist in weit umfangreicherer Weise durch Umschreibungen mit anderen Fällen oder durch Fügungen mit Präpositionen ersetzt worden.

Bei lebenden Wesen wendet man, um den Besitzer zu bezeichnen, ein Possessivpronomen der dritten Person an, das sich auf ein Hauptwort oder Pronomen im Dativ (= dem Akkusativ) zurĂĽckbezieht:

den Möller sien Knecht
min Modder ehr Blomen
Wen’ sien (wessen) Hoff is dat?
Een sin Dood is den annern sin Broot.
He is Modder ehr best KĂĽken in Korf
Dat is de Buur, den’ sin (dessen) Fru doot bleeben is
Wokeen sin Köh hest du vunnacht wat andaan? (Tr., L. E. 12)1

Im Scherz wird wohl auch „min sin“ gesagt.

Aus “se ehr” (Is dat se ehr Hund? Kümmt se ehr Fru ok?) ist in Angeln die doppelte Genitivform “sirs” entstanden:

Se . . . verswunnen vör sirs Ogen (J. A. 30)2
So weer dat doch immerhin för sirs Dochder in gude Brootstä (J. A. 49)3
He hett inne Kopp un snieden sirs Seehannul de Pass af (J. A. 7)4

Durch den Gebrauch dieser Umschreibungen konnte man daher früher von rein plattdeutsch aufgewachsenen Menschen, die Hochdeutsch sprachen, ein Missingsch dieser Art hören:

meinem Vater sein Haus
meiner Schwester ihr neuer Hut

Klaus Groth wendete noch häufig den Genitiv mit s an, um die persönliche Zugehörigkeit auszudrücken. Heute sind solche Formen nicht gebräuchlich:

Witen Slachters (Gr., 3, 105)[^Gr105]
op Königs Wagen mit Königs Geld (Gr., 3, 32)[^Gr32]
vör Vetters Dör (Gr., 3, 66)[^Gr66]
in Modders Arm (Gr., 3, 166)[^Gr166]
in Nissens Goorn (Gr., 3, 351)[^Gr351]
achter er Vadders Huus (Gr., 4, 11)[^Gr11]
Respekt vör Königs Befehl (Gr., 4, 25)[^Gr25]

Auch bei andern Schriftstellern ist diese dem Genitiv im Englischen ähnelnde Form zu finden:

sin Grootvadders Grootvadder (W. 50)5
in Vadders Goorn (F. 4, 152)6
he faat Vadders Hoff an (F. 3, 246)7
as ik Vadders Gewees anfaat (F. 4, 198)8
ut Oldvadders Tiet (F. 4, 297)9

Als erstarrte, ĂĽberkommene Genitivformen sind auch anzusehen:

in Düvels Köök
Gotts Wunner (bei Gottes Wunder)
leider Gotts (das Leiden Gottes)
dat is gottsleider wohr
annern Morgen hett he’n des Dösters wedder in sin Nett (W. 1)10

Handelt es sich um etwas Sächliches, wird der Genitiv durch die Präposition vun ausgedrückt:

Op en Tilgen vun en Barkenboom seet lütt Geelgöschen (F. 2, 316)11
He glööv den Klöönsnack vun de Lüüd nich (F. 3, 43)12
De bangen Gesichter vun de armen Minschen (F. 3, 57)13
Dat Fohrwark vun den Dokter heel dor an (F. 3, 349)14
De SĂĽdermuur vun de Kark (F. 3, 181)15

Drückt der Genitiv ein Teilverhältnis aus (partitiver Genitiv), wird er ebenfalls durch von umschrieben:

de öllst vun de Brööder
dat lĂĽttst vun de Peer
de gröttst vun de beiden

Nach Ausdrücken, die schon eine “Menge” bezeichnen, wird der Akkusativ ohne von gesetzt. Das Plattdeutsche ist sehr reich an solchen Mengenwörtern:

en Barg Minschen
en Block Speck
en Driff Köh
en Druuf Peer
en Drummel Wuss
en Dies Hei
en Doppen Flass
en Flock Aanten
en Fiss Wull
en Fluus witt Hoor
en Finsel Fleesch
en lĂĽtt Fees Wull
en Hood Veeh
en ganze Jagd Kinner
en Jackvoll Tageis
en Koppel Göös
en Kluuster Kratt
en Kluus Goorn
en Knuust Broot
en Lopp Wull
en Satt Melk
en Schoof Kreihn
en Snoor Peer
en Tümp Göörn
en Tuch Farken
en TĂĽĂĽl Hoor
en WrĂĽmpel TĂĽĂĽg

Bei Adjektiven, die nach Zahlwörtern für unbestimmte Mengen stehen, hat sich im Plattdeutschen der Genitiv gehalten:

All Daag wat Nies, sä de Katt, dor verbrenn se sik de Tung an de hitt Melk
Is wat Groots, sä de Jung, dor leeg de Oss in de Weg un de Steert keek herut
Dar heff ik mi nix Slechs bi dacht
Al morgens bi den Kaffi höör he mehr Nies as sĂĽnst in veer Weeken – nich veel Godes (F. 4, 103)16
Hier hest mi mol veel Sööts vertellt (F. 4, 227)17

Ein von Adjektiven und Verben regierter Genitiv ist im Plattdeutschen nicht möglich. Ein Akkusativ oder eine Umschreibung ist an die Stelle getreten:

Dor bĂĽn ik leed op (dessen bin ich ĂĽberdrĂĽssig)
Dat is de Möh ni weert (es ist nicht der Mühe wert)
Ik kann dor ni op kamen (ich kann mich dessen nicht erinnern)
Dat bün ik mööd un satt
Dor is’n ja sien Leben ni seker.
Ik bĂĽn dat Fever quitt (das Fieber hat mich verlassen) (Sch. 3, 262)18

Reste eines frĂĽheren Genitivs finden sich noch in zahlreichen adverbialen AusdrĂĽcken als erstarrte Formen. Sie werden im Sprachbewusstsein nicht mehr als Genitive empfunden:

’s abends
’s morms
’s nachts
’s middags
sĂĽnndaags
swaldaags
opsteeds
opstunns
foorts (mittelniederdeutsch: vort)
op Miil Wegs
na’n Johrs Tiet
to middweegs op’t Water (W. 57)19
op’n Johrs Reis (W. 222)20
butenlands fohren (Fock, C.C. 39)21
stĂĽĂĽrboords (Fock, H. J. 93)22
butenboords (Fock, H. G. 8)23
buten Tiets afgahn (Sch. 1, 23)24
binnen Lands (Gr. 3, 21)25

In Angeln finden sich infolge dänischer Einwirkungen noch weitere s-Formen:

He stiggt to Peerds (J. A. 32)26
Ik will nu to Klabbs (J. A. 47)27
Se weer bald mehr Starms as Läms (J. A. 51)28
De König geiht mit sin ganze Mannschaften to Waters
He hett doch de Macht to Sees (J. A.73)29
He is Weenens to Moo (J. A. 150)30

(ursprĂĽnglich Abschnitt 42 in Meyers Buch “Unsere Plattdeutsche Muttersprache”)


  1. Antonius Tunnicius, älteste niederd. Sprichwörtersammlung 1514 (1854): S. 12 
  2. Jihann Aadulf un sien LĂĽd. Dresden u. Leipzig 1910: S. 30 
  3. Jihann Aadulf un sien LĂĽd. Dresden u. Leipzig 1910: S. 49 
  4. Jihann Aadulf un sien LĂĽd. Dresden u. Leipzig 1910: S. 7 
  5. Wisser, Plattdeutsche Volksmärchen, Jena 1914: S. 50 
  6. Fehrs, Gesammelte Dichtungen in vier Bänden, Hamburg 1913: Band 4, S. 152 
  7. Fehrs, Gesammelte Dichtungen in vier Bänden, Hamburg 1913: Band 3, S. 246 
  8. Fehrs, Gesammelte Dichtungen in vier Bänden, Hamburg 1913: Band 4, S. 198 
  9. Fehrs, Gesammelte Dichtungen in vier Bänden, Hamburg 1913: Band 4, S. 297 
  10. Wisser, Plattdeutsche Volksmärchen, Jena 1914: S. 1 
  11. Fehrs, Gesammelte Dichtungen in vier Bänden, Hamburg 1913: Band 2, S. 316 
  12. Fehrs, Gesammelte Dichtungen in vier Bänden, Hamburg 1913: Band 3, S. 43 
  13. Fehrs, Gesammelte Dichtungen in vier Bänden, Hamburg 1913: Band 3, S. 57 
  14. Fehrs, Gesammelte Dichtungen in vier Bänden, Hamburg 1913: Band 3, S. 349 
  15. Fehrs, Gesammelte Dichtungen in vier Bänden, Hamburg 1913: Band 3, S. 181 
  16. Fehrs, Gesammelte Dichtungen in vier Bänden, Hamburg 1913: Band 4, S. 103 
  17. Fehrs, Gesammelte Dichtungen in vier Bänden, Hamburg 1913: Band 4, S. 227 
  18. SchĂĽtze, Holsteinisches Idiotikon, Altona 1800/06: Band 3, S. 262 
  19. Wisser, Plattdeutsche Volksmärchen, Jena 1914: S. 57 
  20. Wisser, Plattdeutsche Volksmärchen, Jena 1914: S. 222 
  21. Cili Cohrs, QuickbornbĂĽcher 5. Band: S. 39 
  22. Hamborger Janmooten, Hamburg 1914: S. 93 
  23. Hein Godenwind, Hamburg 1912: S. 8 
  24. SchĂĽtze, Holsteinisches Idiotikon, Altona 1800/06: Band 1, S. 23 
  25. Groth, Gesammelte Werke, Kiel 1893 (Unveränderte Nachdrucke 1898, 1909, 1913, 1918, 1920): Band 3, S. 21 
  26. Jihann Aadulf un sien LĂĽd. Dresden u. Leipzig 1910: S. 32 
  27. Jihann Aadulf un sien LĂĽd. Dresden u. Leipzig 1910: S. 47 
  28. Jihann Aadulf un sien LĂĽd. Dresden u. Leipzig 1910: S. 51 
  29. Jihann Aadulf un sien LĂĽd. Dresden u. Leipzig 1910: S. 73 
  30. Jihann Aadulf un sien LĂĽd. Dresden u. Leipzig 1910: S. 150