2.7 Das Partizip der Gegenwart

Durch eine rein lautliche Kürzung ist dem Plattdeutschen das Partizip der Gegenwart (Partizip I oder Partizip Präsens) verloren gegangen. Das d in der Endung -end wurde dem n angeglichen, also nd zu n(n). Das Partizip der Gegenwart fällt daher in der Form mit dem Infinitiv zusammen.

Richtiges Plattdeutsch sind daher:

Dat weer op’n hangen Hoor
he is as ’n stöten Bull
de knarrn Wagens föhrt noch lang
de rieten Jich
tonehmen Maand
afstahn Wind
en rieden Baden
en halsbreeken StĂĽck Arbeit
springenkaken Water
tokum Johr
dor mutt’n sik vör em wohrn as vör en slagen Peerd

In dieser Form wird es von Klaus Groth1 richtig verwendet:

fĂĽerspiegen Bargen (S. 32)
de reisen Schoostergesell (S. 36)
so ’n klagen Toon (S. 94)
en Poor glänzen Ogen (S. 139)
flegen Angst (S. 159)
eer beevern Fööt (S. 160)
en brenn Licht (S. 165)
en hingeeben Seel (S. 192)
de fleegen Sommer (S. 254)
in strieken Stroom (S. 285)

Fehrs2 verwendet es genauso:

mit fleegen Aten (Band 4, S. 73)
en vermögen Fru (Band 4, S. 211)
en freeten Schaden (Band 3, S. 142)
en sitten Handwark (Band 3, S. 265)

Die Formen auf -end sind falsch. H. Kloth3 z. B. gebraucht sie fast ausschließlich und verwendet daneben viele Wörter, die in dieser Form auch kein gutes Plattdeutsch darstellen (z. B. Ereignis, Geschäfte, Inladungen, Toflüsterungen) sondern hochdeutsche Wörter sind, die sich hier als plattdeutsch ausgeben und den Sätzen einen künstlichen Charakter verleihen.

en sihr belihrendes Ereignis (Band 1, S. 37)
so ’n flehenden Blick (Band 1, S. 61)
de brennende Stirn (Band 1, S. 65)
so ’n harden befehlenden Toon (Band 1, S. 73)
sien smerzenden Wunden (Band 1, S. 83)
so ’ne liese, sluchzende Stimm (Band 1, S. 86)
de lopenden Geschäfte (Band 1, S. 101)
dringende Inladungen (Band 1, S. 123)
sien bebende Hand (Band 1, S. 127)
dat kloppende Hart (Band 1, S. 132)
de kamende Nach (Band 1, S. 133)
dat angrenzende Goot (Band 1, S. 148)
de dampende Supp (Band 1, S. 155)
de utströmende Gloot (Band 2, S. 12)
de hochgahenden, rasenden BĂĽlgen (Band 2, S. 16)
de verlockenden ToflĂĽsterungen (Band 2, S. 259)

Ist kein passendes Partizip auf -en zu finden, wird es durch ein Eigenschaftswort ersetzt, das dann gewöhnlich von dem gekürzten Partizip mittels einer Nachsilbe gebildet wird:

glöhnig lesen
tögerig (zögernd)
trĂĽchholern (zurĂĽckhaltend)
stillswiegens (stillschweigend)
fraagwies (fragend)
rĂĽhrsam (rĂĽhrend)

Das Partizip der Gegenwart wird im Plattdeutschen nur dann gebraucht, wenn es vollständig zum Eigenschaftswort geworden ist und als solches verwendet wird. Die hochdeutsche Art der Satzverkürzung mit Hilfe des Partizips gibt es im Plattdeutschen nicht. Daher sind hochdeutsche Partizip-Bildungen wie die folgenden3 im Plattdeutschen nicht verwendbar (falsches Partizip mit fetter Schrift hervorgehoben):

Mit de anner ehr Dook vör de Ogen hollend, stünn se hülplos un tobraken vör em (Band 2, S. 190)

besser: Mit de anner holl se dat Dook vör de Ogen. Dor stunn se vör em, hülplos und tobraken

Dormit staff he vorweg över de Koppel röver, langsam un sik op sinen Krückstock stüttend (Band 2, S. 154)

besser: … över de Koppel röver. Se weer langsam un stött sik op sien KrĂĽckstock

Dat kunn wull nich angahn, ünnerbröök Hartmann em stamernd (Band 1, S. 169)

besser: Dat kunn wull nich angahn, stamer Hartmann un ünnerbröök em

He versprök denn ok lachend, sik in de Ort to beetern (Band 1, S. 225)

besser: He lach un sä em to, sik in de Ort to beetern

De Umstahenden faten s’ ünner und drögen s’ an de Siet (Band 1, S. 81)

besser: De Lüüd ümto faten s’ ünner und drögen s’ an de Siet

He wickel sik schuddernd in sinen Mantel (Band 2, S. 12)

besser: He schudder un wickel sik in sien Matel

Grullend keem dat ut em rut (Band 2, S. 106)

besser: Dat grull ut em rut

(ursprĂĽnglich Abschnitt 35 in Meyers Buch “Unsere Plattdeutsche Muttersprache”)


  1. Groth, Gesammelte Werke, Kiel 1893 (Unveränderte Nachdrucke 1898, 1909, 1913, 1918, 1920): Alle Zitate dieser Aufzählung stammen aus Band 3 von den in Klammern angegebenen Seitenzahlen 
  2. Fehrs, Gesammelte Dichtungen in vier Bänden, Hamburg 1913: Alle Zitate dieser Aufzählung stammen aus den in Klammern angegebenen Seitenzahlen im dem genannten Band 
  3. Kloth, De Landrathsdochder, Garding 1885: Alle Zitate dieser Aufzählung stammen aus den in Klammern angegebenen Seitenzahlen im dem genannten Band