4.1 Begriffsnamen (Abstrakta) im Plattdeutschen

Im Plattdeutschen werden sinnlich wahrnehmbare, konkrete Ausdrücke den abstrakten Begriffen vorgezogen. Das lässt sich dadurch erklären, dass das Plattdeutsche eine lange Zeit hindurch vom schriftlichen Verkehr und vor allem von öffentlichen Orten (Kirche, Schule, Gericht) so gut wie ausgeschlossen war und daher kaum eine Notwendigkeit vorhanden war, viele abstrakte Begriffe zu bilden.

So kommt es, dass es schwer fallen kann, ein einfaches, gutes Plattdeutsch zu sprechen, wenn man an die Ausdrucksweisen des Hochdeutschen gewöhnt ist. Man sucht nach den Entsprechungen hochdeutscher Worte und Idiome und findet sie nicht. So werden dann gerne vorschnell hochdeutsche Begriffe verwendet. Man lässt sie einfach plattdeutsch klingen.

So erklärt es sich auch, dass niederdeutsche Schriftsteller, die ihren Lesern etwas auf den abstrakten Gebieten mitteilen wollen (z.B. Politik, Gesellschaft, Wissenschaft) nur zu leicht geneigt sind, Anleihen bei der hochdeutschen Schriftsprache zu machen. Das ist an sich ganz verständlich und auch nicht grundsätzlich falsch.

Das Plattdeutsche hat zwar im Vergleich zum Hochdeutschen an der Fähigkeit zu abstrakter Begriffsbildung eingebüßt. Dafür hat es aber einen um so größeren Teil der sinnlichen Kraft und Klangfülle der gesprochenen Sprache behalten. Trotz des Mangels an abstrakten Begriffen ist es nämlich in der Regel nicht notwendig, Abstrakta aus der hochdeutschen Sprache einzuführen.

Wer als Kind in einer bestimmten Sprache aufwächst, weiß, dass sich in dieser Sprache alles ausdrücken lässt, was es zu sagen gibt. Das gilt auch für das Plattdeutsche. Wer in plattdeutscher Sprache denken und sprechen gelernt hat (das sind heutzutage leider sehr wenige), der wird merken, dass sich in gutem Plattdeutsch alles sagen lässt. Wer die Sprache kennt und ihre natürlichen Gesetze beachten gelernt hat, der wird in gutem Plattdeutsch alles sagen und ausdrücken können. Darin liegt der Schlüssel für alle, die Plattdeutsch erst später in ihrem Leben lernen. Mann muss diese Sprache lernen, wie jede andere auch und nicht denken, dass Plattdeutsch bloß ein Hochdeutsch ist, welches anders ausgesprochen wird.

Dann wird man die scheinbar notwendigen abstrakten Wendungen mit Hilfe der reichlich vorhandenen, plattdeutschen Hilfsmittel ausdrücken oder umschreiben können ohne viele Anleihen beim Hochdeutschen machen zu müssen, hochdeutsche Formen in plattdeutschen Lauten zu übernehmen, ein in plattdeutsche Laute und Formen umgesetztes Hochdeutsch zu sprechen oder zu schreiben.

Aber in wie weit werden abstrakte Namen im Plattdeutschen denn nun tatsächlich verwendet? Abstrakte Namen oder Begriffe sind Vorstellungen von Dingen, die in Wirklichkeit nur als Merkmale/Eigenschaften von Gegenständen oder Lebewesen existieren. Zum Beispiel:

Namen für Eigenschaften

Do mi dat to Leev (zuliebe, Liebe)

Man kann zwar im Plattdeutschen nicht ich liebe Dich direkt übersetzen, aber natürlich lässt sich im Plattdeutschen ausdrücken, was gemeint ist:

ich mag di lieden
ik heff di leev
ik heff di so gern
du büst doch min Sööten

Andere Beispiele, die abstrakte Eigenschaften enthalten, sind:

Jögd hett keen Dögd (Jugend, Tugend)
keen Duld un Düür hebben (Geduld, Ausdauer)
op Tru un Globen (Treu, Glauben)
Kneep in’n Kopp hebben (schelmisch, schlau)
ik heff dar keen Drift to (Motivation, auch Eifer, Lust, Fleiß)
se kann nich Laat holen (verliert die Fassung)

Abstrakte Namen für Zustände

wat en Höög (Freude)
man keen Sorg (Sorge)
goden Tier hebben (gutes Benehmen)
dat hett keen Deeg (Gedeihen)
op de Duur (Dauer)
dat is Sünn un Schann (Sünde, Schande)
in de Fohrt (Eile)
in Brass (Zorn)
ahn Hitt un Hast (Hast)
Wuut un Wehdaag (Wut, Schmerz)
Gruun un Greesen (Grauen, Schauder (Gänsehaut))
Spiet un Spott (Spott)
sin Vermaak an wat hebben (Freude)
dat is op’n Glee mit em (mittelniederdeutsch: glede; Gleiten)
Hast hett keen Spood (Eile: Allzu große Eile fördert nicht, Eile mit Weile)
dat Weeder steiht in de Horch
he is in de Winst (Gewinn)
Verdreet andoon (Verdruss)

Hierher gehören auch die Benennungen von Zeiträumen oder Zeitabschnitten, obgleich sie mehr konkreter Natur sind:

Dag
Stunn
Maand
Eebenlied un Ettmaal (24 Stunden)
Sünndag
Warveldag
Middeweeken
Harvst
Johrstiet

Namen für Handlungen

Einmalige Handlungen:

to Hölp kamen
to Söök gahn
in de Pleeg hebben
in de Maak hebben
dor is keen Hool un Stüür op em
den Scheel (Unterschied) rieten
Koop drifft Hüür (Kaufen ist besser als Mieten)
he geiht mit em to Greep
se kriegt Faat op em
dor is keen Spood achter

Wiederholte Handlungen:

Geloop
Gesabbel
Gesauster

Dazu sind die als Hauptwörter gebrauchten Infinitive der Verben zu rechnen:

Eeten un Drinken un ringen Lohn
Denken un Menen drüggt
all sin Doon un Denken geiht op Geld
he hett dat Heten un Befehen
dat is en unseeker Gahn
all dien Swögen helpt to nix

Die kurze Auswahl zeigt, dass im Plattdeutschen viele kurze, knappe, meist einsilbige Abstrakta vorhanden sind, die zu der Gedrungenheit des plattdeutschen Satzbaus sehr gut passen. Um so bedauerlicher ist es, wenn diese plattdeutschen Formen im Niederdeutschen durch Nachbildungen oder durch Übernahme hochdeutscher Ausdrücke immer mehr verdrängt werden.

(ursprünglich Abschnitt 68 in Meyers Buch “Unsere Plattdeutsche Muttersprache”)