2.11 Die Mehrzahl der Hauptwörter

Das Abstoßen der Endungen hat zur Folge, dass die Beugung der Hauptwörter (Nomen) an Formen ärmer wurde, sich vereinfachte oder nach anderen Wegen der Abwandlung suchte.

Bei der Bildung der Ein- und Mehrzahl (Singular und Plural) werden die beiden Zahlformen in aller Regel streng auseinander gehalten. Die vollständige Übereinstimmung der beiden Formen ist im Plattdeutschen verhältnismäßig selten:

[Einzahl, Mehrzahl]
dat Schaap, de Schaap
dat Hoor, de Hoor
de Fisch, de Fisch
de Schoh, de Schoh
de Strümp, de Strümp
de Stuten, de Stuten

Da die Endungen der Hauptwörter oft abgeschliffen sind, müssen andere Formen verwendet werden, um die Mehrzahl von der Einzahl zu unterscheiden. In sehr vielen Fällen bewirkte der Verlust des -e ein kräftiges Hervortreten des Umlauts in der Mehrzahlform:

dat Glas, de Glöös
dat Blatt, de Blöd
dat Fatt, de Fööt
dat Rad, de Rööd
dat Slott, de Slööt
de Pahl, de Pööhl (auch Pahln)
de Trog, de Tröög
de Hoff, de Hööv
de Tog, de Töög
de Boom, de Boom (auch Bööm)
dat Broot, de Brööd
de Foot, de Fööt
de Goos, de Göös
de Koh, de Köh
de Busch, de Büsch
de Tuun, de Tüün
de Kluut, de Klüüt
de Muus, de Müüs
de Luus, de Lüüs
de Wuss, de Wüss

Der Verlust des -e kann auch dadurch kompensiert werden, dass dem Stammvokal ein anderer Wert gegeben wird: eine Überlänge, Assimilation oder einen Wechsel zwischen e und ee, i und ee. Dadurch wird die Verschiedenheit der beiden Formen bewirkt:

de Dag, de Daag
de Breef, de Breev’
de Deef, de Deev’
de Hand, de Hänn
de Fründ, de Frünn
dat Peerd, de Peer
dat Woort, de Wöör
de Weg, de Weeg
dat Brett, de Breed
dat Schipp, de Scheep
de Schritt, de Schreed
dat Lidd, de Leeden

Bei vielen Wörtern trat ein Wechsel von der starken zur schwachen Beugung ein, besonders die Wörter auf -el und -er nahmen schwache Mehrheitsformen auf n oder en an:

de Appel, de Appeln
de Aadboor, de Aadboorn
de Stevel, de Steveln
de Koppel, de Koppeln
de Wichel, de Wicheln
de Hassel, de Hasseln
dat Finster, de Finstern
de Finger, de Fingern
dat Gewehr, de Gewehrn
dat Göör, de Göörn
de Spree, de Spreen
de Barg, de Bargen
de Flünk, de Flünken
de Kuus, de Kusen

Bei den Worten Fenster und Finger hört man heute oft, dass die Mehrzahl mit der Einzahl identisch ist. Das ist der Einfluss des Hochdeutschen, der sich hier bemerkbar macht.

Zu den im Hochdeutschen gebräuchlichen Mehrzahlformen auf e, en und er hat sich im Plattdeutschen noch eine Form auf s herausgebildet. Da die Artikel der und die im Plattdeutschen gleichlautend de heißen, sind sie zur Unterscheidung der Ein- und Mehrzahl allein nicht ausreichend, wenn die Mehrzahl zur Einzahl identisch ist. Im Plattdeutschen erhalten besonders die Hauptwörter auf -el, -er und -en dieses s:

de Buddel, de Buddels
de Löpel, de Löpels
de Slötel, de Slötels
de Nawer, de Nawers
de Katteker, de Kattekers
de Scheper, de Schepers
de Balken, de Balkens
de Bessen, de Bessens
de Koken, de Kokens
de Deern, de Deerns
de Jung, de Jungs
de Söhn, de Söhns
de Kerl, de Kerls
de Arm, de Arms

Das Mehrzahl-s ist auch als Mittel zur Bezeichnung der Mehrzahl in das ungezwungene Hochdeutsche eingezogen:

Docks
Jungens
Mädels
Kerls
Bengels
Hochs
Tiefs

Dies ist besonders bei englischen Wörter der Fall, die ins Hochdeutsche übernommen wurden:

Mails
Chats
Meetings
Sit-ups

So scheint es, als ob diese plattdeutsche Mehrzahlform über das Englische wieder in das Hochdeutsche zurückfindet.

Um Amt, Beruf oder Stellung von Personen zu bezeichnen, wird im Plattdeutschen zur Mehrzahlbildung häufig das Wort -lüüd (= leute) verwendet:

Männer: Mannslüüd
Frauen: Fruunslüüd
Städter: Stadtslüüd
Dorfbewohner: Dörpslüüd
Kätner: Katenlüüd
Maurer: Muurlüüd
Arbeiter: Arbeitslüüd
Zimmerer: Timmerlüüd
dat Spill, de Speellüüd
de Smid, de Smeelüüd

Die Mehrzahlbildung ist in den verschiedenen Teilen Holsteins nicht gleich. Hier und da macht sich eine Neigung zugunsten der schwachen Beugung bemerkbar:

de beiden Slossen (W. 225)1
rode Panndacken (F. 4, 96)2
se leet mitto Breven ligg’n (F. 4, 99)3
Steevelsschächten (F. 4, 197)4

(ursprünglich Abschnitt 39 in Meyers Buch “Unsere Plattdeutsche Muttersprache”)


  1. Wisser, Plattdeutsche Volksmärchen, Jena 1914: S. 225 
  2. Fehrs, Gesammelte Dichtungen in vier Bänden, Hamburg 1913: Band 4, S. 96 
  3. Fehrs, Gesammelte Dichtungen in vier Bänden, Hamburg 1913: Band 4, S. 99 
  4. Fehrs, Gesammelte Dichtungen in vier Bänden, Hamburg 1913: Band 4, S. 197